Pressemitteilung zur Landeskulturtagung der LOW Hessen vom 19./20. August 2023

Geflüchtete und Vertriebene berichten von ihren Erfahrungen

„Die jährliche Landeskulturtagung der Landsmannschaft der Ost- und Westpreußen soll die Erinnerung an das Schicksal der Vertriebenen und Geflüchteten wachhalten und die Kultur wie Musik, Tänze und das Brauchtum bewehren“. Das sagte Landesschatzmeister Kuno Kutz bei dem Treffen in der Wetzlarer Stadthalle. 44 Mitglieder aus den zehn Kreisgruppen von Darmstadt im Süden bis Kassel in Nordhessen hatten sich für zwei Tage getroffen.

Gruppenbild Teilnehmer Landeskulturtagung

Erstmals leitete Landesschriftführer Michael Hundertmark die Tagung. Er war spontan eingesprungen, da der Landesvorsitzende Ulrich Bonk aus familiären Gründen nicht teilnehmen konnte. Der Tagungsleiter berichtete, dass die Stadt Wetzlar die Patenschaft für das ostdeutsche Lied seit 1962 auf Bestreben des Musikpädagogen und Volkskundlers Edgar Hobinka betreibt. Das Archiv verfügt über 1800 Liederbücher sowie eine Suchdatei mit 66.000 Liedeinträgen. Es sei etwas anderes von den Schicksalen der Menschen zu lesen oder sie auf der Tagung direkt erzählen zu hören, resümierte Hundertmark die Tagung. In sieben Vorträgen wurden die Teilnehmer mit hinein genommen in die Ereignisse vor fast 80 Jahren.

Referenten (v.2.l. nach rechts): Thomas Ulrich (LOW-Kulturreferent), Stephan Kannowski, Gerhard Schröder (LOW-Ehrenvorsitzender), Hannelore Neumann, Margarethe Ziegler-Raschdorf (Landesbeauftragte Hessens für Vertriebene und Spätaussiedler), Kuno Kutz (LOW-Schatzmeister), Michael Hundertmark (LOW-Schriftführer), Rainer Buslaps (Kreisgemeinschaft Gumbinnen)
Referenten (v.2.l. nach rechts): Thomas Ulrich (LOW-Kulturreferent), Stephan Kannowski, Gerhard Schröder (LOW-Ehrenvorsitzender), Hannelore Neumann, Margarethe Ziegler-Raschdorf (Landesbeauftragte Hessens für Vertriebene und Spätaussiedler), Kuno Kutz (LOW-Schatzmeister), Michael Hundertmark (LOW-Schriftführer), Rainer Buslaps (Kreisgemeinschaft Gumbinnen)

Zum Beitrag der Landesbeautragten der Heimatvertriebenen und Spätaussiedler Ziegler-Raschdorf finden Sie hier einen eingehenden Bericht.

Gerhard Schröder aus Mühltal schilderte seine Erlebnisse mit der „Berliner Luftbrücke“, mit der die westlichen Alliierten die Blockade umgingen, um die Versorgung der 2,2 Millionen Westberliner sicherzustellen. Zuvor hatte die Sowjetunion die Wege zu Land und zu Wasser nach Berlin geschlossen hatten. Er habe die sogenannten Rosinenbomber vom 24. Juni 1948 bis 12. Mai 1949 als 13-Jähriger selbst erlebt und sei mit einem solchen Flugzeug auch geflogen. Damals sei aus den Besatzern der Westzonen allmählich eine Schutzmacht geworden, die mit 277.682 Hilfsflügen die Westberliner vor der sowjetischen Machtübernahme gerettet haben. An aus Taschentüchern gebastelten Fallschirmen wurden damals Süßigkeiten abgeworfen. Diese Idee soll von dem amerikanischen Piloten Gail Seymour Halvorsen stammen. Er habe Halvorsen vor zehn Jahren persönlich bei einem Besuch in Mühltal bei einer Gedenkfeier der deutschen Kriegsgräberfürsorge gesehen, erzählt Schröder. Der legendäre Pilot starb im vergangenen Jahr im Alter von 101 Jahren. Als einst der Berliner Bürgermeister Ernst Reuter seine berühmte Rede „Ihr Völker der Welt, schaut auf diese Stadt und erkennt, dass ihr diese Stadt und dieses Volk nicht preisgeben dürft und preisgeben könnt“, hielt, gehörte Schröder als Jugendlicher zu den Teilnehmern.

Der 52-jährige Frankfurter Stephan Kannowski schilderte seine Reiseerfahrungen, die er auf den Spuren seines Großvaters vor wenigen Jahren gemacht hat. Von der Heimatstadt Königsberg ging es tausende Kilometer östlich an die chinesische Grenze nach Prokopjewsk in Sibirien. Dort konnte er mithilfe einer Baptistengemeinde in einem Birkenwald ein Grab deutscher Soldaten finden. Eine Liste bestätigt, dass auch der Großvater dort in der Nähe eines Gefangenenlagers bestattet wurde. Darin sind 245 Namen verzeichnet, auch von Russen und Ukrainern. Erstaunt war Stephan Kannowski, dass im Militärarchiv in Moskau zugängliche Unterlagen zu finden sind, in denen die letzten fünf Tage des Großvaters vor seinem Tod genau aufgezeichnet sind. Zu lesen ist darin, dass der Großvater am 16. November 1946 an einer Lungenentzündung verstarb. Der 1907 geborene Großvater stammte aus Treuburg (Margrabowo), siedelte später nach Königsberg über, wo er Oberinspektor der ostpreußischen Landeskasse war. Dass er überzeugter Nazi war, bei der SS diente und im Partisanenkampf in Kroatien eingesetzt war, konnte der Enkel ebenfalls recherchieren.

Gerd-Helmut Schäfer aus Friedrichsdorf, Stellvertretender Landesvorsitzender, schilderte das Schicksal seiner Familie. Der Vater, 1908 in Skrodeln im Kreis Tilsit geboren, geriet im März 1945 in russische Gefangenschaft. 1948 erlebte Otto Schäfer die ersten Deportationen. Im März 1949 wurde er mit seiner Frau und dem ein Jahr zuvor geborenen Berichterstatter Richtung Moskau verschleppt. Die Familie wurde in Aira immer weiter Richtung Osten angesiedelt. Ein Bruder Fritz musste 500 Kilometer weiter leben. Ab 1955 ist Gerd-Helmut in die örtliche Schule gegangen. „Wir gehörten zu der deutschen verschleppten Bevölkerung“, sagt Schäfer. Im Dezember 1958 durfte die Familie ausreisen. Nach neun Jahren und neun Monaten habe der Vater erstmals wieder deutschen Boden betreten. Über das Durchgangslager Friedland bei Göttingen hat die Familie zunächst den Neuanfang in Hamburg gestartet.

Landesschatzmeister Kuno Kutz skizzierte das Leben des deutschen Schriftstellers Thomas Mann, der als einer der bedeutendsten Erzähler des 20. Jahrhunderts gilt. Weltberühmt wurde sein Roman „Die Buddenbrocks“. Dafür wurde er 1929 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. „Mit dem Geldpreis hat Thomas Mann sich ein Sommerhaus in Nidden (Nida) an der kurischen Nehrung finanziert“, erzählte Kutz. Im zweiten Weltkrieg habe Hermann Göhring das Gebäude als sein Ferienhaus ausgewählt, sei aber dort nie gewesen. Heute ist das Sommerhaus zum Thomas-Mann-Kulturzentrum in Litauen.

Reiner Buslaps (Butzbach) stellte das heutige Kulturzentrum Ostpreußen vor, das im Westflügel des Barockschlosses Ellingen in Bayern untergebracht ist. Der Aufbau des Kulturzentrums erfolgt seit 1981 mit Unterstützung des Bundes und des Freistaates Bayern.

Unter der Internetadresse „fluchtundvertreibung.dilewe.de“ finden Interessierte ein Digitalportal zu den Themen „Flucht und Vertreibung“, das im Juni zum 70-jährigen Bestehend des BdV-Landesverbandes Hessen vorgestellt wurde. Darauf hat Hannelore Neumann (Karben) hingewiesen. In neun Kapiteln mit 400 Seiten Text, 1000 Bildern und 400 Videos sind dort viele Zeitzeugendokumente zusammengeführt. Alles ist in leicht verständlicher Sprache verfasst, so dass auch Schulen dieses Portal nutzen können. Michael Hundertmark lobte das Portal als hessisches Produkt, das weltweit erreichbar ist und auch im Ausland für Verständnis und Transparenz sorgen kann.

Kulturreferent Thomas Ullrich (Höchst am Main) stellte in einem Vortrag den Fernsehjournalisten und Drehbuchautor Jürgen Haese vor, der 89-jährig in Lübeck lebt. Haese gehörte 1970 zu der Delegation, die den damaligen Bundeskanzler Willy Brandt bei seinem berühmten Kniefall in Warschau begleitete. „Verloren in Elbing – die außergewöhnliche Geschichte des Beamtensohnes Jürgen Haese, 1945 bis 1948“ hatte Ullrich seinen Vortrag überschrieben. Bei seiner Recherche hat der Referent auch eine Reise im Juni 2022 nach Elbing, dem heutigen Elblag, in Westpreußen unternommen. Haese, 1934 geboren, konnte im Winter 1945 nicht mehr aus Polen heraus. Er erlebte die Ankunft der sowjetischen Soldaten und die Einnahme der Häuser durch die polnische Bevölkerung. 1948 wurde Haese in einem langen Flüchtlingstreck nach Deutschland geführt. Den Kulturreferenten Thomas Ullrich hat das Schicksal bewegt, gehört er als 45-Jähriger doch der Enkelgeneration an. Auch seine Großeltern waren aus Elbing.

Landesbeauftragte Margarete Ziegler-Raschdorf mit Michael Hundertmark (LOW-Schriftführer) und Kuno Kutz (LOW-Schatzmeister)
Landesbeauftragte Margarete Ziegler-Raschdorf mit Michael Hundertmark (LOW-Schriftführer) und Kuno Kutz (LOW-Schatzmeister)

Die Teilnehmer äußerten sich begeistert über die Tagung und sammelten bereits Themen für das kommende Jahr. So sollen auch Menschen vorkommen, die nach dem Krieg Flüchtlinge in ihren Familien aufgenommen haben.

Lothar Rühl

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