Bericht vom ersten Tag der Kulturtagung 2024
Der neue Landesvorsitzende des Landesverbandes der Ost- und Westpreußen in Hessen, Gerd-Helmut Schäfer (Friedrichsdorf), zeigt sich erfreut, dass die jährliche Kulturtagung des Verbandes so gut besucht war. 41 Teilnehmer des insgesamt 200 Mitglieder umfassenden Landesverbandes waren in die Wetzlarer Stadthalle gekommen. Dabei erinnerten die Redner an das Schicksal der Vertriebenen und Geflüchteten sowie an die ost- und westpreußische Kultur und das Brauchtum. Dies gelte es zu bewahren. Dafür setzen sich die Geflüchteten und deren Nachfahren in sieben Kreisverbänden ein.
Andreas Hofmeister erstmals zu Besuch bei Landeskulturtagung des LOW Hessen
Die hessische Landesregierung wird sich auch weiterhin für die Belange der Heimatvertrieben und Spätaussiedler einsetzen. Das versicherte der neue Beauftragte der Landesregierung für Vertriebene und Spätaussiedler in Hessen, Andreas Hofmeister (CDU), bei der Kulturtagung der Landsmannschaft der Ost- und Westpreußen in der Wetzlarer Stadthalle. Der aus Bad Camberg stammende 44-Jährige wurde im März zum Nachfolger von Margarete Ziegler-Raschdorf (73) ernannt, die das Amt von 2009 bis Januar 2024 innehatte. Hofmeister, der seit elf Jahren im Landtag sitzt, erklärte, dass er sudetendeutsche Wurzeln hat.
Der Landesbeauftragte erinnerte daran, was die betroffenen Familien erlebt haben und auch zurück lassen mussten. „Meine Mutter war erst vier Tage alt, als die Tschechen sie mit ihrer Familie aus dem Land geworfen haben“. Das war in der Familie immer ein Thema. „Was die Herrschaft des Unrechts uns angetan hat, hat uns immer bewegt“, sagte Hofmeister.
„Die Anliegen der Heimatvertriebenen und Spätaussiedler werden in der Landesregierung selbstverständlich weiter beachtet“, sagte Hofmeister und verwies auf das Bundesvertriebenengesetz, das dies regele. „Wir stehen an ihrer Seite, sorgen als Land für die Rahmenbedingungen“. Hofmeister fasste zusammen: „Sie haben Verluste und Unrecht erlitten“. Dabei nannte er die Deportationen, den Heimatverlust und die Entrechtung. Dies müsse im kollektiven Gedächtnis des Landes bleiben. Dabei erinnerte er an die Charta der Vertriebenen aus dem Jahr 1950, in der die Betroffenen fünf Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg den Gedanken der Rache niedergelegt haben. Dies sei heute hochaktuell angesichts der vielen aktuellen Fluchtschicksale. „Wir werden dafür sorgen, dass Sie ihre Arbeit weiter führen können“, sicherte der Landesbeauftragte zu.
Hofmeister gab zu bedenken, dass die Kinder von damals entweder in hohem Alter sind oder versterben. „Wir haben einen Wechsel von der Erlebnisgeneration zur Bekenntnisgeneration“, sagte der Landesbeauftragte.
Aufnahme der Heimatvertriebenen nach dem 2. Weltkrieg
Herzstück des zweitägigen Treffens sind die Berichte von Vertriebenen und deren Angehörigen. So schilderte die 1930 geborene Gisela Keller, die aus dem Kreis Gumbinnen in Ostpreußen stammt, wie die Familie flüchten musste. Im Dorf Schöten bei Apolda in Thüringen fand die Familie zunächst ein Obdach. Der Vater war aus Tschechien (früher: Tschechei) zu Fuß nach Thüringen geflüchtet und traf dort seine Familie wieder. In der DDR machte sie eine Ausbildung in einem HO-Laden. Sie entschloss sich zur Flucht nach Westdeutschland. Diese Reise führte über Berlin und per Flugzeug nach Hamburg. Von dort ging es zu Verwandten in Niedersachsen. Schließlich zog sie nach Rödermark in Südhessen. Hier hat sie Christian Keller kennengelernt, geheiratet, ein Haus gebaut und eine Familie gegründet. Mit ihrer Heimat verbinde sie noch immer die Liebe zur Scholle. Ihr Mann erzählte die Lebenserinnerungen aus seiner Sicht.
Stephan Kannowski dreht Film über seine Suche nach dem toten Großvater
Der Frankfurter Stephan Kannowski hatte im vergangenen Jahr seine Reiseerfahrungen auf den Spuren seines Großvaters geschildert. In diesem Jahr führte er einen 35-minütigen Film vor, den er aus den unzähligen Handy-Video-Filmen zusammen gestellt hat. Zunächst hatte er sich auf den Weg nach Königsberg aufgemacht, um das Haus seiner Großeltern zu finden. In Königsberg fasste der 53-Jährige den Entschluss, tausende Kilometer zurückzulegen bis an die chinesische Grenze nach Prokopjewsk in Sibirien, wo das Grab des Großvaters sein soll. Dort konnte er mithilfe einer Baptistengemeinde in einem Birkenwald einen Friedhof deutscher Soldaten finden. Eine Liste mit 245 Namen bestätigt, dass auch der Großvater dort in der Nähe eines Gefangenenlagers bestattet wurde. Kannowski ist bereit seinen Film auch bei anderer Gelegenheit vorzuführen. Kontakt: Telefon 0157 31108944 oder Mail: stephan.kannowski@gmx.de
Internetseite erinnert an „Verstorbene Vertriebene aus Ost- und Westpreußen in Hessen“
Das Wissen um die Schicksale von Geflüchteten und Vertriebenen gerät immer mehr in Vergessenheit. Aus diesem Grund hat der LOW-Hessen (www.low-hessen.de) auf seiner Internetseite ein Projekt begonnen unter dem Titel „Verstorbene Vertriebene aus Ost- und Westpreußen in Hessen“. Das berichtete Vorstandsmitglied Fritz Loseries (Lorsch). Er hatte knapp 150.000 Sterbeurkunden 1960 bis 1962 gesichtet und ausgewertet. Bislang hat er über 2000 Sterbeurkunden ausgewertet und 1500 Namen in das Verzeichnis aufgenommen, welches auf der Homepage der LOW Hessen zu finden ist.
Er fand u.a. heraus, dass im Jahr 1946 insgesamt 33.793 Vertriebene aus Ostpreußen in Hessen gelandet sind. Bis 1950 wuchs diese Zahl durch die Vertreibungen auf 60.113 Personen an. Aus den ehemaligen deutschen Siedlungsgebieten in Polen und Danzig waren es 1946 22.835 Menschen und 1950 28.777. Gegenüber der Schlesier und Sudetendeutsche eine Minderheit unter den Vertriebenen.
Dr. Christean Wagner beklagt das Vergessen der Vertreibungen
Die Vertriebenen in Deutschland haben seit 1945 Völkerverständigung betrieben. Diese Ansicht hat der CDU-Politiker Dr. Christean Wagner (Lahntal bei Marburg) bei der Landeskulturtagung der Landsmannschaft der Ost- und Westpreußen in Hessen am 5. Oktober in Wetzlar vertreten. „Mit dem Verlust der ostdeutschen Provinzen haben nicht nur die Heimatvertriebenen Verluste erlebt. Es ist ein Verlust für ganz Deutschland“, sagte der 81-jährige Wagner. Er war hessischer Kultus- und Justizminister und von November 2005 bis Januar 2014 Vorsitzender der CDU-Fraktion im Hessischen Landtag. „Was da an Kultur verloren ist, muss heute noch weitergetragen werden“, hob Wagner hervor. Ihn wundere, dass die Flucht und Vertreibung heute nicht Themen im Schulunterricht sei. Selbst ein Großteil der öffentlichen Politik verdränge das Schicksal von Millionen Deutscher.
Die 1950 von den Vertriebenen in Stuttgart verabschiedete Charta, die auf Rache verzichtet, sei „umso großartiger, so weitblickend, so souverän“. Immerhin habe es damals noch Hoffnung gegeben, dass man in seine alte Heimat zurückkehren könne. Aus der Haltung der Versöhnung heraus müsse man das vereinte Europa verstehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg seien fünf Millionen Menschen vertrieben worden, von denen zwei Millionen die Flucht nicht überlebt hätten. Dies hätten die Heimatvertriebenen als Deutsche erleiden müssen. „Ich finde es unerträglich, dass der Staat Polen 13 Billionen Euro Wiedergutmachung haben möchte. Wenn man den Wert der drei Provinzen gegenrechnet, da reichte diese Summe nicht“. Das Ganze sei ein unfreundlicher Akt der Polen.
Wagner wurde 1943 in Königsberg geboren. Er ist Mitglied im Vorstand der Stadtgemeinschaft Königsberg und seit 2018 Vorsitzender des Zentrums gegen Vertreibungen in Bonn. „Heimat ist für viele eine Selbstverständlichkeit. Auch die Gräber der eigenen Familie. Wir Heimatvertriebenen haben keine Gräber der Vorfahren hier“, sagte Wagner. Die Vertriebenen hätten Sitten und Gebräuche, Vereinsgemeinschaften, Nachbarschaften, Kultur und Dialekt oftmals zurück lassen müssen. Dies dürfe in der Öffentlichkeit nicht vergessen werden. Im Bundesvertriebenengesetz seien in Paragraf 96 als öffentliche Aufgaben festgehalten, die Pflege des Kulturgutes der Vertriebenen und Flüchtlinge. In diesem Zusammenhang kritisierte Wagner die Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen“, weil sie „null Interesse an den Heimatvertriebenen“ habe. Der Unterstützung der Heimatvertriebenen werde nach und nach ausgetrocknet. Schlimmer noch sei es den in die DDR Geflüchteten gegangen. Sie hätten niemals von ihrer Vertreibung reden und sich nicht organisieren können. Selbst in den Schulen sei nie darüber gesprochen worden.
Das Bonner Zentrum und dessen Stiftung sehe die Verpflichtung, heute auf die Vertreibungen aufmerksam zu machen. Aktuell gebe es weltweit 100 Millionen Flüchtlinge. „Heimatvertreibung ist ein Kriegsverbrechen und wir wollen dafür eintreten, dass Heimatvertreibungen zurückgedrängt werden“, sagte der Politiker. So lange es Kriege gebe, werde es auch das Unrecht der Heimatvertreibungen geben. Das Zentrum produziere Ausstellungen, die sich insbesondere an jüngere Menschen, auch an Schüler, wenden sollen. Zudem sammele das Zentrum Zeitzeugen-Berichte und vergibt den Franz Werfel-Menschenrechtspreis in der Paulskirche in Frankfurt. Der Preis ist benannt nach dem Schriftsteller Franz Werfel (1890 - 1945), der mit seinem Roman „Die 40 Tage des Musa Dagh" die Vertreibung der Armenier aus der Türkei und den Genozid an den Armeniern dargestellt hat. Der Preis wird an Einzelpersonen oder Initiativen oder Gruppen verliehen, die sich gegen die Verletzung von Menschenrechten durch Völkermord, Vertreibung und die bewusste Zerstörung nationaler, ethnischer, rassischer oder religiöser Gruppen gewandt haben.
von Lothar Rühl
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